Field Note, 16:07 Uhr, Drogeriemarkt X:
Ich suche nichts Besonderes. Nur einen Lippenstift. Einen, der meine Lippen färbt, nicht meinen Körper belastet. Einen ohne Titandioxid.
Ich stehe vor einem Regal mit mehr als 50 Farben. Mauve, Nude, Zimt, Himbeere. Verpackungen in Roségold und mattem Schwarz. Namen wie Velvet Whisper, Power Kiss, Natural Glow. Ich nehme einen Tester. Drehe ihn um. Scanne die Inhaltsstoffe. CI 77891.
Nächster Lippenstift. Gleiches Spiel. CI 77891. Dritter. Vierter. CI 77891.
Irgendwann stelle ich die Frage nicht mehr: „Hat der Titandioxid?“
Sondern: „Warum eigentlich alle?“
Was sind Field Notes?
Manche Themen passen nicht klar in eine Kategorie.
Sie sind persönlich, unterwegs entstanden, manchmal roh, manchmal still.
Dafür gibt es dieses Format.
Field Notes sind gelebte Gedanken mitten aus dem Leben.
Kein Ratgeber. Kein How-to.
Sondern ein ehrlicher Blick.
Ich weiß, was Titandioxid ist. Ich weiß auch, dass die EU es 2022 aus Lebensmitteln verbannt hat, weil es sich im Körper anreichern und potenziell krebserregend wirken kann. Aber auf den Lippen? Da darf es noch glänzen. Offiziell „nicht gefährlich“, solange man es nicht isst. Nur: Ich trage Lippenstift auf meinem Mund. Und wer Lippenstift trägt, isst ihn auch. Jeden Tag ein bisschen. Im Lauf der Jahre: Gramm. Vielleicht sogar Kilo.
Ich schlucke Farbe, ohne es zu merken.
Ich möchte kein Gift essen. Ich möchte Farbe tragen, ohne dass sie Spuren hinterlässt, in meinen Zellen, meinem Darm, meinem Vertrauen. Andere Schadstoffe wie Paraffine, Silikone und Mineralöle kann ich leicht vorab ausschließen, weil diese bereits mit Häkchen auf den meisten Naturkosmetika deklariert sind. Schwieriger hingegen ist es mit den bedenklichen Azofarbstoffen, die sich, wie Titandioxid, auch hinter Nummern verbergen. Mehr erfährst du bei Ökotest.
Ich bin nicht hysterisch. Ich bin müde. Müde von einem System, das sagt: „Ein bisschen Gift ist okay.“
Was ist Titandioxid überhaupt, und warum ist es problematisch?
Field Note, 22:41 Uhr, Küchenlicht:
Ich suche im Netz „CI 77891“. Der Code, der auf fast jedem Lippenstift steht, den ich in der Hand hatte. Ich lese: Titandioxid. Weißes Pigment. Macht Kosmetik deckend, cremig, haltbar. „Unbedenklich“, sagen viele Seiten. Ich lese weiter. Titandioxid (INCI: Titanium Dioxide, CI 77891) ist ein weißes Pulver, das Licht reflektiert. Deshalb wird es so gern verwendet: Es macht Lippenstifte satter, Sonnencreme UV-stabil, Zahnpasta und Kaugummis leuchtend. Ein Kosmetik-Chamäleon. Fast überall drin.
Doch die schimmernde Fassade hat Risse.
🔬 Das Problem beginnt im Körper:
2021 erklärte die Europäische Lebensmittelbehörde (EFSA):
„Titandioxid kann nicht mehr als sicher gelten.“
Warum? Weil sich Nano- und Mikro-Partikel im Körper anreichern können.
Und: Eine genotoxische Wirkung – also eine mögliche Schädigung der DNA – kann nicht ausgeschlossen werden.
Ein Jahr später wurde Titandioxid in Lebensmitteln EU-weit verboten.
Und in Lippenstiften? In Zahnpasta? Kaugummis? Bleibt es drin. Legal. Dekorativ. Still.
Ich frage mich: Wenn ein Stoff nicht mehr gegessen werden darf, warum darf ich ihn auf die Lippen schmieren?
Denn Lippen sind Schleimhäute. Offen. Durchlässig. Und egal wie schön das Pink: Ich trage es auf dem Mund. Und damit ist es direkt an der Schwelle zwischen Außen und Innen.
Field Notes Fazit, Kapitel 2:
Titandioxid ist ein Meister der Tarnung: Es sieht harmlos aus, weil es so schön aussieht. Doch Achtsamkeit beginnt nicht beim Aussehen, sondern bei der Wirkung.
Und manchmal bedeutet Schönheit: Nein sagen.
Lippen sind Schleimhäute. Und keine Abwehrmauer.
Die unsichtbare Verbindung zwischen Pflege und Körperinnerem.
Field Note, 21:17 Uhr, Spiegelbild:
Ich schaue mir beim Zähneputzen zu. Lippen, halb verschlafen, leicht gerötet vom Tag. Die Farbe ist noch da. Vielleicht nur ein Hauch. Aber: Wie viel davon ist noch auf den Lippen, und wie viel schon in mir?
Lippen sind nicht wie die Haut an Armen oder Beinen. Sie sind dünn, durchlässig, lebendig. Sie bestehen zu einem großen Teil aus Schleimhautgewebe, also dem gleichen Typ wie im Mundinneren oder Darm. Kein Fettpolster. Kein Schutzschild. Nur ein Hauch von Außenhaut. Dann kommt schon das Innen.
🧬 Was bedeutet das?
Was wir auf die Lippen auftragen, bleibt nicht einfach dort. Es gelangt hinein.
- Durch feine Risse.
- Beim Essen und Trinken.
- Beim Sprechen, Lecken, Lachen.
- Im Schlaf.
- Mit jedem Tag ein bisschen mehr.
Studien zeigen: Teile von Lippenpflegeprodukten und Lippenstift werden verschluckt oder aufgenommen, oft unbemerkt, still, regelmäßig.
💋 Warum gerade Lippenprodukte so sensibel sind:
- Nähe zur Mundhöhle → direkter Kontakt mit Speichel, Schlucken, Magen.
- Hohe Wiederverwendung → mehrmals täglich nachtragen.
- Kombination mit anderen Produkten → z. B. Sonnencreme, Gloss, Pflege.
- Kosmetik mit Farbpigmenten → höheres Risiko für problematische Stoffe wie Titandioxid, Aluminium, Mica.
Was auf die Lippen kommt, kommt irgendwann weiter. Und unser Körper? Er verarbeitet, was er kann. Aber nicht alles will er verarbeiten müssen.
🌿 Und was bedeutet das spirituell?
Für mich: Grenzen neu denken.
Die Haut ist nicht das Ende meines Selbst. Sie ist ein Übergang.
Und dieser Übergang ist heilig. Sensibel. Wach.
Ein Lippenstift ist kein Accessoire – er ist ein Bekenntnis dazu, wie bewusst ich meinen Körper behandle.
Field Notes Fazit, Kapitel 3:
Lippen sind zart. Sie sprechen, schmecken, küssen, heilen. Sie verdienen Produkte, die ihnen mit Respekt begegnen, nicht mit Rückständen.
Kosmetikregale: Wo „natürlich“ nicht immer sauber heißt.
Recherche in freier Wildbahn: Was ich gefunden (und nicht gefunden) habe.
Field Note, 17:32 Uhr, Naturkosmetikladen:
Ich halte ein Produkt in der Hand, das sich selbst feiert:
🌱 Vegan. Naturrein. Ohne Mikroplastik.
Ich drehe die Hülse um, lese die INCI: CI 77891. Wieder.
Ich dachte, ich wäre schlau genug.
Ich suchte in Drogerien, Bioläden, Apotheken, Online-Shops.
Ich sortierte aus: alles mit Silikonen, Mineralöl, Duftstoffen, Parabenen.
Ich suchte Filter: „ohne Titandioxid“ (Spoiler: funktioniert nicht, weil es diesen Filter nicht gibt).
Ich glaubte: Wenn schon „Bio“ draufsteht, dann ist doch alles gut.
Aber: Fast alle Naturkosmetik-Marken nutzen Titandioxid – CI 77891.
Weil es deckt. Weil es hellt. Weil es „schöner“ aussieht.
| Label | Was es wirklich bedeutet | Was es nicht garantiert |
| Vegan | Keine tierischen Inhaltsstoffe | Kein Verzicht auf TiO₂, Mikroplastik, Nanopartikel |
| Clean Beauty | Marketingbegriff ohne feste Definition | Kein Schutz vor TiO₂ |
| Naturkosmetik | Je nach Siegel eingeschränkt reguliert | Titandioxid erlaubt, auch in zertifizierter NK |
| Bio | Pflanzliche Rohstoffe aus biologischem Anbau | Keine Aussage über mineralische Pigmente |
🛍️ Was ich fand
- Alverde (DM Hausmarke): Titandioxid in jedem Lippenprodukt, trotz Naturkosmetik-Siegel.
- Luvia: Präsentiert sich als eine Marke mit Haltung. Vegan. Luxurious Lipstick, Farbe Foreign Touch. Gibt auf der Website keine Inhaltsstoffe an. Ich unterstelle, dass Titandioxid drin ist.
- Kessberlin.de: Wirbt mit: „Lippenstifte ohne Chemie“. Der ersten Lippenstift, den ich mir anzeigen lasse, ist Free Lip Balm Coral Blush. Natürlich mit CI 77891.
- Lavera: Wirbt mit „Made in Germany“ und „zertifizierter Naturkosmetik“. Angeblich soll es zwei Farbtöne geben, die frei von Titandioxid sind. Gefunden habe ich nur einen.
- Sante: Zertifizierte Naturkosmetik, man kann „vegan“ filtern. TiO₂ in Lippenstiften durchgängig.
- Dr. Hauschka: Nutzt Titandioxid und Eisenoxide.
Field Note, 22:41 Uhr, auf der Suche im Netz: „Lippenstift ohne Gift“: Ein Artikel, über den ich stolpere, auf orbasics.de „Die besten 13 Naturkosmetik Lippenstifte ohne Schadstoffe“. Top 1 Marke: Ilia, noch nie gehört. Werde verlinkt zu niche-beauty.com. Rate, was der erste Lippenstift enthält, den ich mir anzeigen lasse, wähle extra einen Balm, der nicht so viel Deckkraft benötigt: CI 77891. Natürlich. Gespannt bin ich auf Weleda, wird auch dort gelistet. Werde weitergeleitet zu Weleda Bio Coldcream auf Amazon. Ohne Farbe. Dr. Hauschka, ebenfalls dort gelistet mit Link zum ecco-verde-Shop, hatte ich ja schon. Versuche es trotzdem. Vielleicht gibt es ja irgendwo eine einzelne Farbe ohne CI 77891. Kann die Nummer schon auswendig. Aber nein. Fehlanzeige.
Am krassesten ist die offensichtliche Lüge von peppermynta.de, die mit einer „Top 10 Liste“ für Lippenstifte ohne gefährliche Inhaltsstoffe werben. Der erste Lippenstift, den sie als „titandioxidfrei“ bezeichnen, ist von 100% PURE, und leider NICHT titandioxidfrei. Enttäuschend!
Apps
Egal ob Yuka, Code Check oder Cosmile: Man kann scannen, aber nicht suchen. Einzelne Marken gebe ich ein, um zu prüfen, aber viele sind dort noch gar nicht gelistet.
✅ Lichtblicke – aber mit Einschränkungen
Es gibt einzelne Produkte ohne Titandioxid, aber:
- schwer auffindbar
- oft nur getönte Balms (nicht deckend)
- keine große Farbauswahl
- kaum stationär erhältlich
Field Notes Fazit, Kapitel 4:
Das Wort „bio“ beruhigt. Aber es schützt nicht.
Wer wirklich tiO₂-frei leben will, braucht mehr als gute Absichten.
Man braucht eine Lupe. Und Geduld. Und vielleicht: eine Community, die mit sucht.
Alternativen? Ja, aber du musst suchen.
Meine ersten Funde + Tipps für die Suche.
Field Note, 00:03 Uhr, Suchverlauf:
„Lippenstift ohne Titandioxid“
„Natural lipstick no CI 77891“
„clean lipstick titanium dioxide free“
Ich klicke, vergleiche, scrolle, scheitere.
Dann: Ein kleiner Fund. Noch einer. Hoffnung.
Alles bisher nur online.
🧭 Die gute Nachricht:
Es gibt Lippenprodukte ohne Titandioxid.
Die schlechte: Sie verstecken sich.
Oft hinter langen INCI-Listen, unklaren Shops, falschen Filtern und verwirrenden Claims. Und meistens sind Eisenoxide drin.
Was mir geholfen hat:
- Nicht auf Labels verlassen.
Sondern selbst INCI-Listen lesen. - Nach dem Code CI 77891 suchen, nicht nur „Titanium Dioxide“.
- Produkte mit wenig Deckkraft checken, sie brauchen das Pigment oft nicht.
- Kleinere, radikale Marken suchen, aus UK, USA oder DIY-Communitys.
🤝 Du musst nicht alleine suchen
Ich habe lange recherchiert, aber ich bin nicht fertig.
Wenn du ein Produkt findest, das gut ist und ohne Titandioxid auskommt:
💌 Teile es! Schreib mir. Kommentiere. Vernetze dich mit anderen Suchenden.
Denn das ist keine private Marotte, es ist eine stille Bewegung für Körperrespekt.
Field Notes Fazit, Kapitel 5:
Die Suche ist mühsam. Aber sie macht wach. Und manchmal ist das der Anfang von etwas Großem – einem neuen Standard, der nicht deckt, sondern aufdeckt.
Was diese Suche mit Achtsamkeit zu tun hat
Ein Blick über die Lippenkante hinaus.
Field Note, 17:43 Uhr, auf dem Heimweg:
Ich gehe an einem Schaufenster vorbei. Mein Spiegelbild trägt keinen Lippenstift. Nur ein leichtes Rot vom Wind. Ich fühle mich klar. Nicht geschminkt, aber auch nicht ungeschützt. Einfach: ich.
Es fing mit einer Inhaltsstoffliste an. Aber es geht längst um mehr als Titandioxid.
Es geht darum, ob ich mir selbst zuhöre, wenn mein Körper sagt: Ich will das nicht.
Ob ich mich rausrede – oder reinfühle. Ob ich das, was „alle“ machen, einfach mitmache. Oder ob ich mich frage:
„Will ich das wirklich?“
🌿 Achtsamkeit ist nicht nur Meditation.
Sie beginnt, wenn ich wach bin für das, was in meinen Alltag hineinwirkt:
Was ich esse.
Was ich auftrage.
Was ich einatme.
Was ich ungefragt akzeptiere.
Ein Lippenstift ist keine große Sache. Und genau deshalb ist er so wichtig. Weil er zeigt, wie leicht wir Kompromisse machen. Und wie stark es wirkt, wenn wir es nicht tun.
💬 Die Sprache der Selbstachtung ist leise.
Sie sagt nicht: „Ich bin besser, weil ich tiO₂ meide.“
Sondern:
„Ich achte auf mich – weil ich es mir wert bin.“
Und plötzlich wird ein Produkt zur Praxis.
Eine Entscheidung zur Haltung.
Ein No zum Nein zu Dingen, die nicht durch mich durchdürfen.
Field Notes Fazit, Kapitel 6:
Diese Suche ist ehrlich. Und sie fragt: Was lasse ich an mich heran? Und was nicht?
Field Notes Fazit & Community Call
Eine Suche endet nicht – sie geht weiter. Am besten gemeinsam.
Field Note, 22:09 Uhr, Kommentarspalte:
Vielleicht liest das hier jemand, die weiter ist als ich. Die schon fündig wurde.
Die weiß, wie es geht, Und bereit ist, zu teilen. Oder: Du liest das, und fängst gerade erst an zu suchen. Dann: Willkommen.
Ich habe in den letzten Tagen viel gelesen, geprüft, ausprobiert – und noch keinen perfekten Lippenstift gefunden. Aber ich habe etwas anderes gefunden:
Ein Gefühl von Klarheit.
Ein „Nein“ zu etwas, das sich falsch anfühlt.
Ein „Ja“ zu einem Körper, der es verdient, dass ich ihn schütze – auch vor einem Pigment, das hübsch aussieht, aber nicht bleibt, wo es soll.
💬 Und jetzt?
Ich lade dich ein: Schreib mir. Kommentiere. Teil deine Erfahrungen.
- Kennst du Produkte ohne Titandioxid?
- Oder bist du, wie ich, auf der Suche?
Field Notes Schlussgedanke:
Manchmal beginnt Achtsamkeit mit einem Lippenstift.
Und endet bei einer Revolution im Kleinen.